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Kristallwanderungen
Wie die Menschen lernten, die Steine zu verstehen
Die schönste Kristallgeschichte der WeltSchon seit der Antike
wurden die Menschen von den Kristallen, dem »ewigen Eis« magisch
angezogen.
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Prachtvolle Kunstgegenstände wurden
daraus gefertigt, und Mythen berichten von sagenhaften Kristallpalästen.
Durch einen glücklichen Zufall trafen während des unheilvollen Zweiten
Weltkrieges drei Männer zusammen, die sich gegenseitig anregten, weiter
in das geheimnisvolle Reich der Kristalle und Mineralien vorzudringen,
als es jemals anderen Menschen gelungen war. In packenden Berichten
erzählt Michael Wachtler von ihren »Kristallwanderungen«.
Vom Reich der Steine und Kristalle haben die meisten eine verschwommene
Vorstellung. Keineswegs liegt das daran, dass sich nur wenige Menschen
mit Steinen beschäftigten, aber die Welt der Mineralien nimmt uns nicht
so offen auf, wie das Reich der Tiere und Pflanzen. Deswegen wirkt
alles, was mit »Stein« zu tun hat, auf uns sehr unlebendig. Es scheint
sogar, als wären Mineralien für den Menschen unnahbare Geschöpfe, denen
man mit Vorsicht und Misstrauen begegnen müsse. Zumeist gelingt es nicht
einmal, die Erfahrungen und Erlebnisse mit ihnen und die Gefühle für sie
in verständliche Worte zu kleiden. In vielen Fachbüchern wird versucht,
das Wesen der Kristalle in distanzierter, nüchterner Sachlichkeit zu
erfassen, bis sich am Ende sogar der Interessierteste gelangweilt
abwendet. Zudem versucht man nur allzu oft, einem jungen Menschen, der
sich mit dem Mineralreich beschäftigen möchte, bewusst zu machen, wie
schwierig dieses Unterfangen sei. Andere wiederum verstecken sich unter
dem Deckmantel scheinbarer Wissenschaftlichkeit, um mit erhobenem
Zeigefinger zu mahnen, dass das »Metier« schwer verständlich und höchst
verworren und deshalb auf jeden Fall »gelehrt« sei.
Trotzdem gibt es genügend Menschen, die zwischen Gletschern und
ausgesetzten Wänden, in der Kälte und der Finsternis, den Felsen ihre
Geheimnisse zu entlocken versuchen? Und dabei in ein faszinierendes
Reich überwältigender Schönheit eindringen. Nicht von Humbug und
Irrlehren will ich deshalb erzählen, sondern von Menschen, die durch
lebenslange Übung und intensive Naturbeobachtung gelernt haben, die
Sprache der Kristalle zu verstehen und so in eine Welt eingetreten sind,
die für die meisten verschlossen bleibt. Sie erklärten mir dieses
»Geheimnis« in so einfachen Worten, dass ich erstaunt war, wie leicht
verständlich die großen Zusammenhänge der Natur sind.
Helden- und Abenteuergeschichten erzählen zumeist von großartigen
Unternehmungen und heroischen Taten, von Tragödien und Triumphen. Mir
geht es nicht darum, die Geschichten großen Schatzfunde
aneinanderzureihen: Die größten Kristalle, die prachtvollsten Goldfunde,
die seltensten Mineralien. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, die
Lebensgeschichten der Menschen darzustellen, die es verstanden haben,
tiefer in die scheinbar tote Materie »Fels und Kristall« einzudringen
als alle anderen.
Seit einigen Jahren hat sich der Trend entwickelt, den Steinen
esoterische und heilende Kräfte zuzuschreiben. Das wäre an und für sich
nichts Schlechtes, wenn sich diese Menschen nur eingehender mit den
Kristallen beschäftigten! Aber zumeist plappern fast alle nur das nach,
was schon in den alten und inzwischen tausendfach kopierten Büchern
stand. Wie ärgerte sich schon der sachlich nüchterne Naturforscher
Plinius über die »Quacksalber«, die dem violetten Amethyst vor
Trunkenheit schützende Wirkungen nachsagten. »Seine Farbe erinnert zwar
an Wein, mehr aber nicht«, stellte er fest. Aber weil es gut klang,
kritzelten es alle bis in die Neuzeit ab. Gedankenlos und zumeist ohne
inneres Verständnis für diese faszinierende Welt der Steine, fühlt sich
jeder schnell als feinsinniger Kenner, allerdings meist mit dem
Hintergedanken, den Hilfesuchenden ihr letztes Geld aus der Tasche zu
ziehen.
Dem entgegen stelle ich das Beispiel von »Pader« Flurin Maissen: Auch er
glaubte anfänglich, dass es ein Leichtes sei, die Welt der Steine zu
verstehen, bis ihn einfache Kristallsucher lehrten, dass es lebenslanger
Übung bedarf, um mit den Felsen »sprechen« zu können. Bereitwillig nahm
»Pader« Flurin die Last des Lernens auf sich. Die Geschichte, die ich
wahrheitsgetreu erzähle, handelt davon, wie viele Jahre er einsam und
allein durch die Berge streifte, um die verschiedenen Arten von
Gesteinen und ihre Eigenheiten kennen zu lernen. Erst als er sich ein
umfassendes Maß an Wissen angeeignet hatte, wagte er es, sich an jene
Menschen anzugliedern, die schon seit Jahrzehnten in die Berge gegangen
waren. Trotzdem fühlte er sich immer noch als Neuling, dessen Bestreben
es war, in weitere Geheimnisse eingeweiht zu werden. Diese Geschichte
wäre für uns verloren, hätte es »Pader« Flurin nicht verstanden, den
Prozess des Suchens und Beobachtens in feinfühlige Worte zu kleiden. In
vielfältigen Abhandlungen führt er den Interessierten nach und nach zum
»Geist des Ganzen«, der für die meisten Menschen verborgen bleibt. Erst
nach einem viele Jahre dauernden Studium der verborgenen Kräfte der
Natur fühlte er sich berufen, Vorbild für andere zu sein und wurde zu
einem der kämpferischsten Naturschützer seiner Gegend.
Die Geschichte von »Pader« Flurin Maissen wäre nicht vollständig, würde
sie sich nicht in wunderbarer Art mit dem Leben des einfachen Bauern und
Jägers, Gion Antoni Hitz, ergänzen. Als über Siebzigjähriger, in einem
Alter, in dem anderen schon längst sowohl die körperlichen als auch die
geistigen Kräfte abhanden kommen, setzte er sich hin und begann zu
schreiben, welche Grundvoraussetzungen der Wissbegierige mitzubringen
hat, um die vielseitigen Geheimnisse der Mineralien ergründen zu können.
Kein gelernter Literat brachte dies je zu Papier, sondern ein
Kristallsucher und Bauer wurde zum Schreiber. Er tat dies in einer
Sprache, die uns heute noch berührt. Mit einfühlsamen Worten beschreibt
Gion Antoni Hitz die Jugendzeit eines Mannes mit dem erdachten Namen »Pieder«
- was »Fels« bedeutet – und berichtet so über keinen anderen als über
sich selbst.
Geboren wurde die schönste Geschichte über die Kunst des
Kristallsuchens. Was er in seinem Leben wichtig fand, die noch so
kleinsten und unscheinbarsten Anzeichen, lehrt er den jungen Lernenden
Pieder erkennen. Er, nun selbst Greis geworden, führt ihn in »die hohe
Kunst« des Findens ein. Er gibt Hinweise und ermahnt, weist auf Gefahren
hin und verschmilzt das Reich der Blumen, Tiere, Steine und Menschen zu
einem übergeordneten Ganzen. So wurde seine Erzählung gleichzeitig zur
großartigen Liebesgeschichte.
In einem unglückseligen Abschnitt der Menschheitsgeschichte – während
des Zweiten Weltkrieges - fanden im rätoromanisch sprechenden Teil der
Schweiz, der Surselva, drei Menschen verschiedener Nationen und
unterschiedlichen Bildungsgrades zueinander, die gleiche Interessen
verfolgten. Ihr gemeinsames Ziel war es, tiefer in die Geheimnisse des
»Steinreiches« einzudringen, als es vorher jemals geschehen war. Je
länger die Schrecken dieses völkermordenden Krieges andauerten, desto
intensiver wurden ihre Überlegungen und Anstrengungen auf der Suche nach
einer besseren Welt.
Da war der leidenschaftliche und herzensgute englische Sammler Frederick
Noel Ashcroft, der mit geradezu besessener Freude am Detail mit seiner
hochwertigen Kamera all die Orte und Klüfte dokumentierte, aus denen die
besten Kristalle stammten. Mit seinem Werk hinterließ er der Nachwelt
wertvolle Zeugnisse, die im ehrwürdigen Natural History Museum in London
noch heute für Staunen und Anerkennung sorgen. Oder der deutsche
Professor Johann Georg Koenigsberger, der so wissenschaftlich akribisch
wie nur möglich die Welt der Mineralien erforschte, um daraus
abzuleiten, worin sich die tieferen Geheimnisse der Erde begründen. In
einer der ärmlichsten aber landschaftlich schönsten Gegenden der Schweiz
fanden sich all diese Personen. Doch die Geschichte wäre ohne einen
weiteren großartigen »Strahler« oder »cavacrappa«, wie in der Schweiz
die Kristallsucher genannt werden, unvollständig: Ambrosi Cavegn.
Wie »Pader« Flurin oder Gion Antoni Hitz hatte auch er auf seine eigene
Art und Weise erkannt, dass es nicht genügte, in die Berge zu gehen, nur
um Kristalle zu finden. Dann waren sie nichts als bloße Steine. Wertvoll
wurden sie erst durch die Dokumentation, das Niederschreiben der
Empfindungen, das so genannte »Geistige«. Einmal in der Woche, zumeist
am Sonntag, setzte sich Ambrosi Cavegn hin und schrieb seine »Turs per
crappa«, seine »Kristallwanderungen«. Ein Leben lang. Damit hauchte er
den Kristallen Leben ein. Erst damit wurden sie zu »sprechenden« und
»erzählenden« Steinen. Mit geradezu verblüffender Beobachtungsgabe
entschlüsselt er die Geheimnisse der Natur, zeigt selbst die
unscheinbarsten Schönheiten der Kristalle auf und vermittelt, wie sehr
in jedem Mineral etwas zutiefst Persönliches steckt.
Sie alle taten sich in dieser Gegend zusammen, um die »schönste
Geschichte über die Welt der Mineralien und Kristalle« zu schreiben.
Hier in der Surselva erkannte ich, dass, im Vergleich dazu, die
Abenteuergeschichten der Bergsteiger, die versuchen, in möglichst
unsinnigen Verrenkungen die steilen Felswände zu besteigen, nichts
anderes als oberflächliches Imponiergehabe darstellen. Der einzigartige
Reiz der Erzählungen der »cavacrappa« beruht auf der Liebe zu ihren
Bergen, ihrer Scholle und ihrer Weltanschauung. Sie schafften es,
Zusammenhänge in der Natur und Lebensweisheiten, die wir sonst nie
erkannt hätten, wie etwas Selbstverständliches preiszugeben. Selbst die
uns Menschen antreibenden Beweggründe, wie Besitztrieb,
wissenschaftliche Neugierde oder Abenteuerlust, verweben sich zu
faszinierenden Lebensgeschichten: Wie Aufkäufer aller Herren Länder
zusammentreffen, um mit wildem Gefeilsche »Besitzer« der schönsten
Mineralien zu werden; wie Wissenschaftler hoffen, mit wichtigen
Neubeschreibungen in die Geschichte einzugehen; wie reiche Mäzene diese
Kunstwerke der Natur bei sich zur Schau stellen wollen. Hier, in diesen
Kriegsjahren, verwischt und verwebt sich alles. »Pader« Flurin Maissen,
Ambrosi Cavegn, Gion Antoni Hitz und mit ihnen vielen anderen gelingt
es, das Wesen dieser allumfassenden Liebe zur Natur zu erklären. Oder
wie Gion Antoni Hitz seine große Liebe zur Natur in seiner
Lebenserinnerung »Per crappa massel jeu bugen - Für Steine ginge ich
gerne« ausdrückt: Jene begehrte »Ametista« zu finden die stellvertretend
steht für die Geliebte, wie auch als Liebe zur großen Mutter Natur.
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