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Michael Wachtler

Highlights | Die Tirol-Saga

Die Tirol-Saga

Historia eines mysteriösen Volkes von Wilden.
Von Raufbold Ötzis bitterem Ende bis zu den Helden der Schmerzen.

Im Heiligen Land im Gebirge Tirol lebt heute noch eine rätselhafte Horde von Wilden ohne besondere Manieren in einem furchtlosen Kampf um der Natur jeglichen Platz zu rauben.

Die Höhepunkte dieses unbewohnbaren Gebietes im Herzen Europas bilden ihre vielfachen Pilgerstätten des Aberglaubens, wo sie in seltsamer Freundschaft mit ihren Göttern verkehren, sowie ein wunderliches Todesdenken mit ausgeprägtem Mumienkult. Den tapferen Fremden erwartet ein Land voller außerordentlicher Naturschönheiten, in dem Leute von Geist und Bildung seit je her gering geschätzt werden, während sie ihre unzähligen durch Schlägereien und Saufereien zu Tode gekommenen Helden besonders verehren.

Wo das Land liegt und warum hier überhaupt Menschen wohnen

München ist eine Weltstadt, Salzburg hat die Musik, Augsburg strahlt vornehmes Flair aus. Verona ist die Stadt der Liebe, Venedig ist ehrwürdig, Mailand nobel. Hier gibt es Kultur und Kunst zum Frühstück, zum Mittagessen, die ganze Nacht hindurch. Leonardo da Vinci, Dürer, Michelangelo, Einstein und ein weiterer unendlicher Ochsenschwanz an den besten Geistern, welche diese Welt je hervorgebracht, hat wirkten hier, entdeckten und erfanden. Der Mutterleib der Genialität ließ eine solche Unzahl an überragenden Köpfen zur Welt kommen, wie kaum anderswo. In diesem Umfeld der Kreativität enteilte der Mensch mit Meilenstiefeln dem Tierischen.
Dazwischen liegt die Wildnis. Von welcher Richtung man auch schaut, von München, Salzburg, Verona, Venedig türmen sich im Dunstkreis des Auges wilde Berge als wie von Kanonen zerstörte Ruinen: Die Alpen. Der Name bedeutet nichts anderes als „Berg“. Die ersten Bewohner der Ebenen fanden kein treffenderes Wort.
Das Land, von dem hier besonders die Rede ist, nannte man seit alters das „Land im Gebirge“ und seine Bewohner die „Menschen im Gebirge“. Es erstreckt sich einer uneinnehmbaren Festung gleich durch das Herz Europas über zweihundert Kilometer von Norden nach Süden und in gleicher Weite von Osten nach Westen. An diesen beiden Seiten gibt es noch gleiche Gestade in denen Menschen ähnlicher Gesinnung leben. Es ist eine traurige Unwiderlegbarkeit, dass die meisten Menschen diesem Land in grundlosem Unwissen gegenüberstehen.
Das Land im Gebirge ist in Wirklichkeit unbewohnbar. Die Gegenden sind so steil, dass sie auch unregierbar sind und sie sind durch und durch wertlos. Es gibt kein Meer, kein Gold, kein Öl, keine Schätze. Dass sich hier Menschen aufhalten, ist für jeden Fremden eigentlich unvorstellbar. Gerade deswegen wurden sie bewohnt, weil jeder normal Vernünftige ausschließen musste, dass hier jemand überlebte. Jeder aus den umliegenden Gebieten aus irgendwelchen Gründen Verjagte, jeder Halunke und Streitbold, Meuchelmörder und Revolutionär konnte davon ausgehen, dass man ihn einzig und allein hier, und sonst nirgendwo, unbehelligt ließ. Die Anderen in den weiten europäischen Ebenen Lebenden konnten dagegen annehmen, dass diese Steinwüsten und Gletscherhöllen mit jedem innerhalb kürzester Zeit fertig werden würden. All diesen Irrtümern und Missverständnissen ist schlussendlich die Besiedelung dieses wilden Landes im Gebirge zu verdanken.
Es liegt im Wesen der Frau selbst den Abschaum der Menschheit bemuttern zu wollen, um aus ihm etwas Besseres zu machen. Im Soge all dessen zog es auch Weiber in diese Berge. So fanden die größten Räuber doch irgendeine Windsbraut, meistens gar keine schlechte, und sogar ihrer viele. In den Augen der Frauen wurden aus Banditen und Raufbolden schnell verwegene und ehrliche Abenteurer, aus Aufrührern und Querdenkern gerechte Helden. Aus solchen Genen stammen ihre Kinder. Besondere Neigungen für Kultur und Anstand waren weder erwünscht noch zu erwarten. Die Natur verlangte andere Fähigkeiten.

Die Angst der ältesten Chronisten vor einem Volk von Säufern

Schriftstellerische Ergüsse auswärtiger Autoren, welche sich mit der Geschichte dieses Bergvolkes aus irgendwelchen Gründen befassten, endeten trotz vieler guter Vorsätze zumeist nur in einer Aneinanderreihung kaum für möglich zu haltender Schlechtigkeiten.
Schon dem römischen Schreiber Marcus Porcius Cato Maior (234-149 v. Chr.) stach lange vor Christi Geburt ein sonderbares Bergvolk ins Auge. Mögen die spärlichen Beschreibungen, abgesehen von ihrem mutmaßlichen Alter, nicht von großer Bedeutung sein, so fördern sie trotzdem von Anfang an einen erstaunlichen Wesenszug zutage:
«Cato lobte in den Briefen, die er seinem Sohn schrieb, besonders den rätischen Wein.“ In die gleiche Kerbe schlug der noch berühmtere griechische Chronist Polybios von Megalopolis. Der Wein war diesen Wilden etwas vom Wichtigsten. Die Pflanzen hegen, pflegen und veredeln sie heute noch wie sie es kaum einmal mit ihren Frauen tun. Da die Nachfrage so groß ist, werden überall wo nur einigermaßen möglich Trauben angebaut. Diese werden in Fässer abgefüllt, gut verschlossen, dass sie von selbst zu gären beginnen und stark werden. Das daraus hervorgehende Getränk wird in weit entfernte Gebiete mit hohem Gewinn verkauft. Es gibt vielerlei Sorten von Wein, den sie nach den Gegenden, wo er vorkommt, benennen: Kalterer, Lagrein, Traminer gehören zu den bekanntesten. Erstaunlichweise wird in diesem Land auch alles andere, was von Natur dazu leidlich geeignet ist, zu Alkohol vergoren. Dazu gehören Schnäpse aus Äpfeln, Birnen, Aprikosen und aus anderswo vollkommen unbekannten und staunenswerten Wurzeln und Beeren wie Wacholder, Meisterwurz und Enzian.
Einziger Sinn dieser betörenden Getränke ist zu berauschen, was diesen Wilden wichtig ist. Sie sagen, es sei die brauchbarste Möglichkeit, um ihren Geist und Verstand höheren Sphären zuzuführen. Obwohl es in anderen Ländern für denkende Menschen viel ungefährlichere Methoden gibt, wollen sie dem keinen Glauben schenken. Man gewinnt sogar den Eindruck, dass bei diesen Wilden die größten Trinker am meisten verehrt und geschätzt werden und den höchsten Rang einnehmen. In den dazu gehörenden Bräuchen haben sie es zu hoher Meisterschaft gebracht. Sehr oft kommt es zu größeren Raufereien, wobei Unschuldige durch die anschließenden wilden Rasereien zu Tode kommen. Doch gilt dies bei den Eingeborenen als Geringfügigkeit und wird geflissentlich als nicht allzu schlimm empfunden.
Jeder findet im Laufe seiner Reisen allerorts genügend Gelegenheit sich mit der Historia ihrer Trunksucht und ihrer Trinkgelage zu beschäftigen. Deshalb sei dem Fremden aufgetragen es zu halten wie beim Anblick eines Bären in der Wildnis. Je weniger man ihnen bei ihren Gelagen Beachtung schenkt und sich ruhig hält, desto höher ist die Aussicht, den Wilden zu entkommen. Je heftiger man sich wehrt, desto mehr erheitern sich für gewöhnlich die rohen Kumpanen.
Es scheint Sitte zu sein, beim Saufen sehr hilfsbereit und entgegenkommend zueinander zu sein. Wer mehr Geld hat, lädt freigebig die anderen mit ein. Solch ein Gelage kann eine ganze Nacht anhalten und noch länger, wobei sie hemmungslos tanzen und ein fürchterliches Geschrei machen. Es macht ihnen scheinbar wenig aus, wenn ihnen hernach speiübel ist und sie sich todelend fühlen.
Manchmal machen ihre Weiber freiwillig bei diesen Trinkgelagen mit, zumeist sind sie selbst Opfer und werden fürchterlich begrapscht und an ihren begehrlichen Stellen erregt. Es ist allgemeiner Brauch neugeborenen Kälbern ein Glas Schnaps einzuflössen, um sie für ihr weiteres Leben zu kräftigen. Gleiches machen sie mit ihren kranken Tieren. Zudem ist es Sitte die Weinreben zu besprechen, um damit Ungezieferbefall vorzubeugen.

Wie wichtig es in diesem Land ist Held zu sein

Die Eingeborenen dieses Landes im Gebirge waren immer schon ein heldenhaftes Volk, wo das Heldsein als Beruf verstanden wird. Es gehört für jeden, der etwas auf sich hält dazu, unter Todesgefahr Abenteuer zu bestehen, oder wenigstens davon zu erzählen. Blickt man in die Bücher der Geschichte dieses Volkes, so wird einem schnell bewusst, wie gering sie ihre Schriftsteller, Maler, Erfinder und Denker immer schätzten und wie sie ihre Helden über alle Maßen verherrlichten. Durchdachte Kriegskunst ist ihnen allerdings fremd. Jeder einzelne vertraut immer einzig und allein auf seine eigene Heldenkraft und Körperstärke. An Waffen sind sie nie verlegen und nehmen, was sich gerade anbietet: Gabeln und Sensen, Dreschflegel und Beile bis hin zu Stöcken und Steinen. In den Augen der anderen galten diese Wilden als stolzes, listiges Volk, das stets bereit war, selbst unter Preisgabe des eigenen Lebens, jeden zu verfolgen und ihm den Schädel einzuschlagen.
Kann einmal einer dieser Menschen leidlich schreiben, so setzt er all diese Kenntnisse dafür ein um seine eigenen Heldentaten zu verherrlichen. Ist seine Geisteshöhe zu dem nicht fähig, ist es unbeschämender Brauch unter eigenem Namen jemand anderen dies tun zu lassen.
Seit je her laben sich diese Menschen am Traum großartiger Heldentaten und nähren sich im Glauben, dass das Gute das Böse besiegt, einem Märchen grenzenloser Liebe und ritterlichem Geist. Jeder in diesem Land fühlt sich als Held und sei es auch nur in seiner Gruppe oder gar nur für sich selbst.

Über die verschiedenen Besonderheiten der Presse und Gott als Zeitungsherausgeber

Lieber Leser! Die Bewohner dieses Landes bedurften lange keiner Presse, weil ein Volk, das seit jeher so vom Rest der Welt abgeschieden war, die wenigen anfallenden Dinge leicht im Gedächtnis bewahren konnte. Erst spät und wohl auch nur deswegen, weil die Geistlichkeit feststellte, dass Gott eine Plattform zur Verbreitung seiner Gedanken und Botschaften gegeben werden musste, besann man sich auf die Herausgabe von Zeitungen.

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Fragt man die Menschen nach der besten Zeitung im Land, so herrscht die Meinung vor, es gäbe keine gute aber auch keine schlechte. Keine richte größeres Unheil an, wie auch keine größeren Nutzen bringe. Es sei wie mit dem Glauben und der Kirche. Noch nie habe das Herunterleiern der Predigten, das monotone Herablesen des Evangeliums, der Lesung und der Gesänge jemandem sonderlich etwas eingetragen, wie auch niemand ohne all dem zu Schaden gekommen wäre.
Ihre neuesten Nachrichten sind, wie das Evangelium bei der Heiligen Messe am Sonntag, allesamt sehr vorhersehbar und das Lesen eine ermüdende Angelegenheit. Nach der ersten Hälfte beim Lesen der Zeitung wie bei der Teilnahme am Gottesdienst täuschen die Menschen noch rege Aufmerksamkeit vor, weil sie glauben, die Augen der anderen seien auf sie gerichtet und es sei nicht schicklich durch ein Verlassen der Messfeier oder ein Weglegen der Zeitung aufzufallen. Das froheste Erlebnis ist jener Augenblick, in dem der Priester mit göttlichem Segen die Menschen verabschiedet oder wenn der Leser am Ende beim Betrachten der Todesanzeigen feststellt, dass er nicht dabei ist.

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Vom Weltgeschehen passiert gewöhnlich das, worüber von anderen Zeitungen überall auf der Welt berichtet wird, dann folgt ein vorhersehbarer Lokalteil mit „Landeshauptmann eröffnet Schule“, oder auch Feuerwehrhalle, Kulturhaus, Altersheim in beliebiger Mutation, dazu noch „Landtag wird morgen zusammentreten“, oder heute, oder um zehn Uhr. Neue Gesetze wurden beschlossen, zumeist um den Bürger etwas aus der Tasche zu ziehen, oder Verbote mitzuteilen. Dann gibt es Hinweise auf irgendein Volkstheater, Lustspiel, Konzert. Die Speisekarte ist beliebig austauschbar. Der Sport berichtet von Lokalgrößen und vielerlei Hoffnungen. Die Leser freut es, wenn endlich wieder einmal ein richtiger Mord, ein Verbrechen oder ein größerer Unfall stattfindet. Das wird besonders gerne gelesen. Todesanzeigen folgen am Ende je nach Sterbemenge und tragen zum größten Teil zur Abdeckung der Erhaltungskosten einer Zeitung bei. Es gilt in diesem Land, dass man erst richtig gestorben ist, wenn seine Todesanzeige in der Zeitung abgebildet ist.

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Der Tiroler will keine gute Zeitung, besonders keine, welche kritisiert. Wohl aber will er sich stundenlang ereifern, dass er keine gute hat. Versucht wirklich ein neu gegründetes Journal auf der Suche nach neuen Kunden bissig zu sein, dann verkünden ihre Politiker einmütig, dass sie mit diesem Revolverblatt nicht mehr sprechen würden. Unabhängig davon erklären die lokalen Parteigrößen, dass sie mit dieser Mistgazette nicht mehr sprechen und sie selbstverständlich auch nicht kaufen werden, und selbst die Bauern, die Wirtschaftstreibenden und die Arbeiter kommen unabhängig zur Ansicht, dass sie solch ein verlogenes Geschreibsel weder kaufen, noch lesen und selbstverständlich streng kontrollieren würden, wer es kaufe. Richtigerweise sind allzu kritische Redakteure bei einem so einigen Volk, das von Natur aus Tugend und Treue zugeneigt ist, nicht erwünscht und werden rechtzeitig entfernt.


 

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